konkrete Kunst nach 1945: Vom rechten Winkel

konkrete Kunst nach 1945: Vom rechten Winkel
konkrete Kunst nach 1945: Vom rechten Winkel
 
Wie zahlreiche andere künstlerische Tendenzen des 20. Jahrhunderts hat auch die konkrete Kunst ihre theoretischen und praktischen Grundlagen im zweiten und dritten Jahrzehnt, besonders in den Bewegungen von Konstruktivismus, Suprematismus und »De Stijl«. Gegenüber der Bezeichnung »abstrakt«, die man deren ungegenständlichen Bildwelten verliehen hatte, bevorzugte Theo van Doesburg aber schon 1924 den Begriff »konkret«: »Konkrete Malerei also, keine abstrakte, weil nichts konkreter ist, als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche. Es ist das »Konkretwerden« des schöpferischen Geistes.«
 
Im Manifest der von ihm mitgegründeten Gruppe »Art concret« ging van Doesburg 1930 noch weiter. Konkrete Kunst sei von der abstrakten dadurch unterschieden, dass ihre Zeichensprache nicht aus der Naturwirklichkeit abgeleitet sei, sondern unabhängig von ihr als absolutes, rein geistiges Produkt entstehe. Dieses habe visuell exakt kontrollierbar zu sein, weshalb das Bild aus Formen und Farben gestaltet werden müsse, die nur sich selbst bedeuteten und keine Anlehnung an die Natur enthalten dürften. Als »konkret« bezeichnete er somit das Produkt, nicht die Methode seiner Herstellung. Diese konnte - wie dies in der Praxis auch oft der Fall war - konstruktiv sein, sich aber auch anderer Vorgehensweisen bedienen. Als Auguste Herbin und Georges Vantongerloo 1931 in Paris die Gruppierung »Abstraction-Création« gründeten, die in den Dreißigerjahren das Sammelbecken einiger hundert Künstler aus dem nur vage definierten Bereich der geometrischen Abstraktion war, fanden sich dort so prominente wie unterschiedlich arbeitende Mitglieder zusammen - etwa Wassily Kandinsky, Robert Delaunay, Piet Mondrian oder Sophie Taeuber-Arp.
 
Den von van Doesburg angedeuteten strengen Ansatz der Konkretion entwickelten in den Dreißiger- und Vierzigerjahren in der politisch neutralen Schweiz Max Bill, Richard Paul Lohse, Verena Loewensberg, Camille Graeser, der früh in die USA ausgewanderte Fritz Glarner und einige andere jüngere Künstler weiter. Der am Bauhaus ausgebildete, universale Gestalter Bill fasste seine später mehrfach überarbeiteten und sehr einflussreichen Überlegungen bereits 1936 programmatisch zusammen, wobei die Kleinschreibung bereits Teil des Programms war: »konkrete kunst ist in ihrer eigenart selbstständig. sie ist der ausdruck des menschlichen geistes, für den menschlichen geist bestimmt, und sie sei von jener schärfe, eindeutigkeit und vollkommenheit, wie dies von werken des menschlichen geistes erwartet werden muss«. Neue, universell gültige Realitäten entstünden nach harmonischen Gesetzen. Bill interessierte vordringlich die Elementarisierung, Systematisierung und Perfektionierung der Erscheinung eines Kunstwerks, für die er oft auf geometrische Ordnungsprinzipien zurückgriff. Dennoch nahm er in seinen Werken auch spätere Formen der kinetischen Kunst, der Op-Art und der monochromen Malerei vorweg.
 
Auch wenn sich die informell-expressiven Tendenzen der Malerei in diesen Jahren größter Wertschätzung erfreuten und die öffentliche Debatte beherrschten, fand die konkrete Kunst besonders in den Fünfziger- und Sechzigerjahren überall in Europa und in den USA weite Verbreitung. Dabei eröffnete sich ihr ein großes Spektrum äußerst unterschiedlicher gestalterischer Möglichkeiten - von strenger Systematik bis hin zur Monochromie.
 
Der aus Ungarn stammende, seit 1930 in Paris ansässige Victor Vasarély schuf Werke aus kleinen Farbformen. Diese »plastischen Einheiten« ordnete er in »elastisch« verformbaren Rastersystemen an, die das Auge des Betrachters verunsichern sollten. Mit der systematisch überfordernden Wahrnehmung bereitete Vasarély der Op-Art den Weg, die solche und ähnliche Effekte bis hin zur optischen Täuschung verabsolutierte. Genauso wichtig für die Op-Art wie für die konkrete Kunst war der Beitrag von Josef Albers, der durch seine Lehrtätigkeit am Bauhaus und - nach seiner Emigration 1933 in die USA - unter anderem am »Black Mountain College« sehr einflussreich war. Nach dem Grundsatz »maximale Wirkung bei minimalem Aufwand« untersuchte er mit seiner 1949 begonnenen, umfangreichen Serie »Homage to the Square« (»Huldigung an das Quadrat«) über Jahrzehnte hinweg Farbbeziehungen. Albers' Prinzip gründete auf der Wechselwirkung der Farben, der auch seine erstmals 1963 unter dem Titel »Interaction of color. Grundlegung einer Didaktik des Sehens« veröffentlichte Farbsystematik galt. Auf der einheitlichen Basis des Quadrats - einer »Schlüsselform« konkreter Kunst überhaupt - erprobte er die optische und räumliche Eigenwirkung der Farben. Die geometrische Elementarform war dabei lediglich das gleich bleibende Gefäß, in dem sich, ungehindert von kompositionellen Überlegungen, die unendlichen Wechselwirkungen der Farben entfalten konnten. Hierdurch rückte Albers die Diskrepanz zwischen dem physikalischen Faktum (»factual fact«) und dem psychischen Effekt (»actual fact«) ins Bewusstsein.
 
Schon früh bildete sich in der amerikanischen Kunst eine sehr selbstständige, geometrische Formen bevorzugende Tendenz der konkreten Kunst aus, die formal wie inhaltlich wenig Gemeinsamkeiten mit den europäischen Bestrebungen aufwies. Sowohl Barnett Newman als auch Ad Reinhardt gelten als Vertreter der Farbfeldmalerei, des »Color-Field-Painting«. Newman arbeitete mit strengen, allerdings in keiner Weise systematisierten Formen, besonders mit großformatigen, von Streifen besetzten Feldern. Diese erregten Aufsehen, weil sie dem Betrachter die Erfahrung eines ins Unendliche anwachsenden Farbraums vermittelten, die alles bisher Gesehene überstieg. Reinhardt malte in den Sechzigerjahren seine »Ultimate paintings«: Diese »letzten Bilder« verschmelzen in einem kreuzförmigen Schema drei Schwarztöne, denen kaum erkennbar die Primärfarben Rot, Gelb und Blau beigemischt sind, und sie werden so zu annähernd monochromen Meditationstafeln.
 
Den Arbeiten Newmans wie Reinhardts ist eine deutliche metaphysische Qualität zu Eigen, die sie unüberbrückbar von der europäischen konkreten Kunst unterscheidet. Trotz dieser Besonderheit wirkten beide Künstler - allerdings eher aufgrund ihrer konsequenten Haltung als aufgrund ihrer Formen - anregend auf die jüngeren amerikanischen Vertreter der Minimalart. Zu den Farbfeldmalern gehörten weiterhin Morris Louis und Kenneth Noland, deren Werke allerdings weniger spiritualistisch zu deuten sind. Eine Extremposition besetzen Ellsworth Kellys »hartkantigen« Werke mit klar begrenzten Farbflächen, nach denen man diese Richtung »Hard-Edge-Painting« nennt. Kelly hatte von 1948 bis 1954 in Frankreich intensiv die europäische Kunst studiert und dort erste Anregungen gefunden; ihn interessierte das entindividualisierte, autonome Objekt, das keiner Komposition bedurfte.
 
In Europa bediente sich die konkrete Kunst in den Fünfziger- und Sechzigerjahren vorzugsweise streng geometrischer Formen und systematischer Ordnungskriterien - meist in deutlicher Abkehr von herkömmlichen, ausbalancierenden Kompositionen. Der Münchner Günter Fruhtrunk lebte, wie Kelly, in den frühen Fünfzigerjahren in Paris, wo er sich mit den Positionen von Hans Arp, Fernand Léger, Vasarély und Herbin auseinander setzte, der 1949 sein Buch »L'art non-figuratif non-objectif« veröffentlicht hatte. In den Sechzigerjahren befasste sich Fruhtrunk intensiv mit Farbforschung: Die Interferenzen seiner kontrastierenden Farbstreifen suggerieren vibrierende Bewegungen. Da seine Werke trotz minimaler Systematik keiner strengen Rationalität folgen, kann man seine Kunst der Position intuitiver Geometrie zurechnen, zu der auch die Arbeiten von Rupprecht Geiger gehören.
 
Einen Sonderfall konkreter Kunst stellt die 1958 in Düsseldorf ins Leben gerufene Künstlervereinigung »Zero« dar. Künstler wie Heinz Mack und Otto Piene, etwas später Günther Uecker, aber auch Gotthard Graubner, Hermann Goepfert, Piero Dorazio, Enrico Castellani, Almir Mavignier und Jan Schoonhoven reduzierten die Gestaltungselemente auf ein Minimum. Sie bevorzugten deshalb die auch metaphorisch zu verstehende, reine weiße Farbe und einfache geometrische Strukturen ohne komplizierte Systematik. Durch Licht-Schatten-Modulationen, die sich durch leichte Reliefs auf dem monochromen Grund ergeben und die vom Standort des Betrachters abhängig sind, konnten sich sehr verschiedene optische Wirkungen einstellen.
 
Im Allgemeinen genossen jedoch in der konkreten, besonders in der konstruktiv-konkreten Kunst der Sechzigerjahre in Europa, mathematische Operationsmodelle Vorrang. Hierzu gehören metrische, arithmetische oder geometrische Reihen ebenso wie die Fibonacci-Folge, einer Folge von Zahlen, bei der jedes Glied gleich der Summe der beiden vorangegangenen Glieder ist. Weiterhin wurden die oft modularen Gestaltungselemente durch kombinatorische Verfahren, etwa Permutation oder Variation, und durch einfache geometrische Verfahren, zum Beispiel Spiegelung oder Drehung von Zeichenkomplexen, angeordnet. Auch Algorithmen, also bewusst eingesetzte Zufallsverfahren, gelangten zur Anwendung. Trotz aller Berechnung blieb aber auch eine Gestaltung, die teilweise oder gänzlich intuitiv vorging, nicht ausgeschlossen. Die strenge konkrete Kunst bevorzugte hierfür klare Primärfarben oder reines Schwarzweiß.
 
Der Franzose François Morellet besetzt eine Extremposition rationaler und systematisierter Geometrie. Seine Bildsprache entwickelte er aus fünf Systemgruppen, den Prinzipien der Aneinanderreihung, Überlagerung, Zufallsverteilung, Interferenzen und Fragmentierung strenger geometrischer Formen. Auf ähnlichen Grundlagen arbeiten bis heute zahlreiche Künstler in ganz Europa. Zumindest während der Teilung Europas in der Nachkriegszeit waren ihre Beweggründe dabei sehr unterschiedlich. Die Anwendung bereits minimaler mathematischer Operationsmodelle, also der Einsatz logischer Denkvorgänge, konnte in den Fünfzigerjahren in Frankreich und Deutschland als bewusste Entscheidung gegen die vermeintliche Willkür informeller Malerei und damit als Ausdruck von überindividueller Gültigkeit angesehen werden. Ein osteuropäischer Künstler konnte dagegen mit der Wahl der gleichen Methoden seine geistige Freiheit gegenüber fremdbestimmter Bevormundung betonen, was diesen einen ethischen Wert verlieh.
 
Prof. Dr. Matthias Bleyl
 
 
Gomringer, Eugen: Zur Sache der Konkreten, Band 2: Konkrete Kunst. St. Gallen 1988.
 
Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.
 Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.

Universal-Lexikon. 2012.

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